LogoLobbywatch

(K)eine Frage des Anstands

13.09.2019 12:16 – Philippe Wenger

Auf einem Podium in Bern diskutierten Parlamentarierinnen und Experten über Lobbyismus, Geld und Voyeurismus – mit interessanten Ansätzen.

Ein Voyeur ist jemand, der Lust empfindet durch das Zuschauen bei sexuellen Handlungen anderer. Für CVP-Nationalrätin Ruth Humbel setzen sich auch jene der «Gefahr des Voyeurismus» aus, die sich für mehr Transparenz aussprechen. Der Blick auf die Interessenbindungen unserer Nationalrätinnen und Ständeräte hat also etwas latent Unanständiges. Überhaupt fiel das Wort «Anstand» in fast jedem Votum von Humbel auf dem Podium des Politforums in Bern am 10. September zum Thema «Lobbys im Parlament».

«Anstand ist nicht regulierbar», sagte Humbel. Und scheint damit ihren Grund gefunden zu haben, im Parlament gegen so ziemlich jede Regelung zu stimmen, die für eine Ausweitung der Transparenz in Sachen Lobbys und Politikfinanzierung steht. Gehen wir mal von diesem (durchaus plausiblen) Szenario aus: Frau Humbel ist eine hochanständige Politikerin, die völlig entkoppelt von Geld ihre Entscheidungen fällt. Warum hat Sie dann ein Problem damit, dass die mit ihrem öffentlichen Mandat verbundenen Interessenbindung mit Entschädigungen offengelegt werden? Humbel scheint von ihrer Anständigkeit auf andere zu schliessen. Sie scheint sich nicht vorstellen zu können, dass sich Menschen von Geld verleiten lassen können.

Die Frage nach dem Fussabdruck

Ein Beispiel, wieso hohe Entschädigungen ein Problem sein können, kam von Martin Hilti, dem Geschäftsführer von Transparency International Schweiz: «Unser aktueller Aussenminister hatte in seiner Zeit als Nationalrat von nur einem Mandat 180’000 Franken Jahreseinkommen.» Bei hohen Entschädigungen würden die Parlamentarier zu verlängerten Armen der betreffenden Unternehmen und in deren Interesse stimmen, andernfalls dürften sie die Mandate rasch loswerden.

SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen sprach sich deutlich für mehr Transparenz aus: «Ruth Humbel beklagt sich über mangelnden Anstand, stört sich aber auch daran, im Schaufenster zu stehen. Tatsache ist, dass die vielen dunklen Stellen dem Vertrauen in die Politik schaden. Es geht darum, wie Entscheidungen zustande kommen, und nicht um Voyeurismus.»

Martin Hilti meinte, dass die Mehrheit des Gesetzgebungsprozesses im Dunkeln liegt: «Der Prozess dauert etwa vier Jahre und nur an zwei ganz kurzen Orten kommt Licht ins Dunkel: Bei der Vernehmlassung und bei der Ratsdebatte.» Er und Wasserfallen forderten immer wieder, dass verbindliche Regeln in Sachen Lobbys und Politikfinanzierung verfasst werden. Man solle die Mandate der Parlamentarier besser kennen, die dafür fliessenden Entschädigungen sowie den «legislativen Fussabdruck» von Gesetzen. Sprich: Welche Lobbys wann und wie Einfluss auf einen Vorstoss nehmen.

Worin sich alle auf dem Podium einig waren: Lobbys gehören zum Milizparlament. Das Problem gemäss Hilti: «Parlamentarier häufen viele Mandate an. Das führt vor allem in den Kommissionen dazu, dass eine Lobby völlig dominiert.» Ein Beispiel: Die Regel, dass Sozialversicherungen Detektive auf die Versicherten ansetzen dürfen, sei im «Eilzugstempo» durch die Gesundheitskommission des Ständerats gepeitscht worden – dort haben die Versicherungen eine «Mandate-Übermacht» und das Gesetz ist ganz in ihrem Sinn. Humbel fügte an, dass dieses Gesetz vom Volk bestätigt wurde, die Kontrolle also funktioniere. Nur: Das Volk kann am Schluss nur noch Ja oder Nein sagen, einen ausgewogenen Wettstreit der Argumente in der Kommission kann das nicht mehr ersetzen.

Ein Versprechen

Immer wieder mit interessanten wissenschaftlichen Fakten brachte sich Odile Ammann, Jus-Habilitandin an der Universität Zürich, in die Diskussion ein. Sie gab zu bedenken, dass das Milizsystem nicht in der Verfassung verankert, sondern ein politisches Konstrukt ist. Und dass unsere Parlamentarierinnen und Parlamentarier das Gesetzemachen faktisch zum Beruf haben: Das Durchschnitts-Arbeitspensum liegt im Nationalrat bei 87 Prozent. Reto Wiesli vertrat die Position der Schweizerischen Public Affairs Gesellschaft SPAG: «Selbstregulierung funktioniert nur bei denen, die sich selber regulieren lassen wollen», sagte er. Auch er sprach sich mehrfach für verbindliche Regeln darüber aus, wie Lobbys im Parlament arbeiten dürfen.

Das Podium ist ein weiteres Indiz dafür, dass eine Zeitenwende ansteht. Selbst eine Politikerin wie Ruth Humbel scheint sich langsam dem öffentlichen Druck nach mehr Transparenz zu beugen. Sie sagte, sie gebe sich «Mühe, alles zu deklarieren» – und listete dann ihre Einkünfte aus ihren Mandaten zu schnell auf, als dass man hätte mitschreiben können. Immerhin: Sie hat versprochen, Lobbywatch die Angaben nachzuliefern. Danach müssen die Wählerinnen und Wähler nicht mehr auf ihr Wort vertrauen, sondern wissen, dass sie anständig ist – und entscheiden bei den Wahlen im Oktober, wer es nicht ist.

Bild: Susanne Goldschmid/Polit-Forum Bern